Herkunftsfamilie
„Was wirklich zählt, das sind nur wir beide. Du und ich, sonst brauchen wir niemanden!“ Dieses Heraufbeschwören innigster Zweisamkeit prägt oft die Phase der ersten Verliebtheit. Wenn die ersten Meinungsverschiedenheiten mit der Schwiegerfamilie auftreten, bekommt diese Aussagen mitunter einen mehr trotzigen Charakter, mehr ein „Du und ich gegen den Rest der Welt“. Besser ist es, von Anfang an zu akzeptieren, dass wir alle eingebettet sind in ein Netz aus sozialen Kontakten. Man kann unter Umständen die Flitterwochen auf einer einsamen Insel verbringen, aber im Ehealltag müssen wir uns mit unseren Familienzugehörigkeiten, Verbindungen, Verpflichtungen, aber auch Abgrenzungen auseinandersetzen.
An der Schwelle zu diesem neuen Lebensabschnitt, der mit der Eheschließung beginnt, bietet es sich geradezu an, einmal innezuhalten und den Blick auf die eigene Herkunftsfamilie zu lenken. Was habe ich mit bekommen (in einem ideellen Sinn), welche Werte haben mich geprägt? Unsere Persönlichkeit ist schließlich die Summe unserer genetischen Anlagen, unserer Ausbildung und der Art und Weise, wie wir in der Familie angenommen, gefördert und unterstützt wurden. Welche Traditionen und Rituale waren mir wichtig? Wer waren meine Vorbilder? Was möchte ich gerne in meine Ehe übernehmen oder weiter entwickeln, was will ich hingegen ganz bewusst anders machen? Es ist jetzt auch eine besondere Gelegenheit, den Eltern, der Familie, den Menschen, die bisher wichtige Bezugspersonen waren, einmal für alles zu danken. Manches habe ich vielleicht auch als nicht so hilfreich empfunden, es hat mich enttäuscht, verunsichert, geärgert.
Was möchte ich in diesem Zusammenhang noch sagen, fragen, klären? Auch wenn ich immer ein Teil meiner Herkunftsfamilie bleiben werde, so gilt es doch, die Phase der ausschließlichen Zugehörigkeit gut zu beenden. Über diese höchstpersönliche Auseinandersetzung mit meiner Partnerin/meinem Partner zu sprechen schafft Nähe, fördert Verständnis und ermöglicht einen anderen Blick auf die Schwiegerfamilie. Als Paar ist dann schließlich gemeinsam zu erörtern, welche Einbindungen und Abhängigkeiten es gibt (zum Beispiel was die Wohn- und Arbeitssituation betrifft, oder später vielleicht einmal die Betreuung von Kindern). Was können wir annehmen? Wo wollen wir es alleine schaffen? Was ist noch ein wohlmeinender Ratschlag und wo beginnt bereits die Einmischung? Sind wir uns da einig?
Kinder aus einer früheren Beziehung eines oder beider Partner stellen eine ganz besondere Art der Herkunftsfamilie dar, bedeutet diese Konstellation doch, dass es eine elterliche Bezugsperson außerhalb der aktuellen Lebenssituation der Kinder gibt. Sie kann schon verstorben sein, sie kann weit weg oder ganz nah wohnen, sie kann allein oder in einer neuen Familie mit neuer Partnerin/neuem Partner und Stiefgeschwistern leben. Das alles wirft viele Fragen auf. Wie werden die Besuchsrechte wahrgenommen? Wie werden wir zusammenleben? Wie ist meine Stellung als Stiefmutter/Stiefvater? Hans Jellouschek widmet in seinem Buch „Wie Partnerschaft gelingt – Spielregeln der Liebe“ den Zweitehen ein eigenes Kapitel, in dem er unter anderem die Wichtigkeit der Toleranz und das Wirken des Zeitfaktors betont. In Stieffamilien haben alle oder doch mehrere einen schweren Verlust hinter sich. Er warnt auch vor möglichen Loyalitätskonflikten und davor, die Kinder als Zwischenträger von Informationen zu benützen.
In jedem Fall ist eines sicher: die neue Partnerschaft braucht Pflege und dafür bewusst reservierte Zeit. Für die beiden Einzelpersönlichkeiten, die „ja“ zueinander sagen, gilt es nun auch zu überlegen, was sie als Paarpersönlichkeit ausstrahlen wollen. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage der Abgrenzung, womit ich doch wieder zum Anfang zurückkomme. Bei aller Wertschätzung der jeweiligen Herkunftsfamilien, manchmal dürfen und müssen die Partner einander genug sein, damit sie als Paar wachsen und sich entwickeln können.
Ulli Moore